Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund

Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ´Verdeckten Schreibweise` im "Dritten Reich" (München 1999)

 

 Vorwort (Auszug)

[...]

Eine systematische und historisch-chronologische Aufarbeitung der poetischen und journalistischen Camouflage könnte [...] die Diskussion über die literarische Innere Emigration wesentlich erweitern und vertiefen, vielleicht sogar zu einer Neubewertung dieses nach wie vor umstrittenen Bereiches führen. Das vorliegende Buch bietet hierfür Materialien und Vorarbeiten. In seinem einführenden Teil werden zunächst allgemeine poetologisch-rhetorische wie hermeneutische Grundfragen behandelt, da die bisherigen Studien zur literarischen Inneren Emigration und zum literarischen Widerstand nur Ansätze für eine systematische Theorie der "Verdeckten Schreibweise"24 enthalten. Es folgen zwei Analysen, in denen das abstrakt Entwickelte an ausgewählten Texten eingehender veranschaulicht werden soll.

Der Haupttell des Buches wird von einer Textsammlung mit ausführlichen Erläuterungen gebildet. Die Auswahl besteht aus einer Mischung von bekannteren, als repräsentativ angesehenen und von weniger bekannten Texten und Textauszügen.25 Sie will die weltanschaulich-politische Vielfalt der getarnten Literatur und Publizistik exemplarisch verdeutlichen: neben christlichen Dichtern beider Konfessionen stehen liberale und "linksbürgerliche" Autoren, aber auch solche, die - zumeist von den verschiedenen Richtungen der "Konservativen Revolution" her kommend - am herrschenden Regime positive, auf Mäßigung zielende Teilkritik geübt haben. Zugleich wird versucht, die große Bandbreite formaler und stilistischer Möglichkeiten der "Verdeckten Schreibweise" zu dokumentieren: die spezifischen Techniken der Camouflage realisierten sich in einem Spektrum von Textarten, das von den traditionellen epischen, lyrischen und dramatischen Gattungen bis zu den Prosazweckformen Predigt und Essay reicht.

Der erste Teil der Erläuterungen besteht jeweils aus biographischen Angaben, die vor allem über das generelle Verhältnis und die faktischen Beziehungen des Autors zum Nationalsozialismus und zum praktisch-politischen Widerstand informieren. Solche Kenntnisse sind für das adäquate Verstehen nonkonformer oder oppositioneller Botschaften unerläßlich. Die meisten Literaturlexika, aber auch manche einschlägigen Untersuchungen zur Inneren literarischen Emigration geben hierzu nur unzulängliche Auskünfte, und die entsprechenden Aussagen in den nach 1945 publizierten Autobiographien mancher Innerer Emigranten sind oft unzuverlässig.26

Es folgen Daten und Fakten zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der einzelnen Texte. Bei Arbeiten, die während des "Dritten Reiches" verfaßt, aber erst nach Kriegsende publiziert worden sind, finden sich auch einige textkritische Hinweise (Carossa, Finck, Krauss). Der gesamte Bereich der Textkritik von Werken der literarischen Inneren Emigration bleibt allerdings ein dringendes Desiderat der Forschung. Ist die Materiallage besonders günstig, wird das Unterkapitel "Entstehungsgeschichte" durch Ausführungen zum "Zeitgeschichtlichen Hintergrund" erweitert (Kuckhoff, Linfert, Nebel, Penzoldt, Schneider). Wenn nichts über die Entstehungs- und Publikationsgeschichte ermittelt werden konnte, tritt das Unterkapitel "Zeitgeschichtlicher Hintergrund" an deren Stelle (Drews, Günther, Friedrich Georg Jünger). In allen Fällen geht es darum, den aktuellen Bezugspunkt des jeweiligen Textes, der erst eigentlich seinen kritischen oder dissidenten Gehalt erkennen läßt, wahrnehmbar zu machen.

Ein Referat der Aussagen, die die Autoren selbst vor und nach 1945 zu ihren Texten getätigt haben, schließt sich jeweils an. Es handelt sich um aus Vorworten, Briefen, Tagebüchern, Autobiographien, Essays usf. stammende Bemerkungen erläuternder und deutender Art, welche vor allem die Intention des jeweiligen Textes betreffen. Allgemeine und spezielle Überlegungen der Schriftsteller zu den zeitpolitischen Bedingungen und den Formen der "Verdeckten Schreibweise" treten hinzu. Ergänzt wird dieser Teil durch die Anführung von thematisch-inhaltlichen und motivlichen Parallelen aus anderen Werken der Autoren.

Im Schlußteil der Kommentare wird Material zur Rezeptionsgeschichte des jeweiligen Textes vorgestellt. Es handelt sich vor allem um Rezensionen aus Zeitschriften und Zeitungen, Gutachten der nationalsozialistischen Lenkungsstellen, Briefe an die Autoren und einschlägige Aussagen derselben aus Tagebüchern und Autobiographien. In den früheren Arbeiten zum Gegenstandsbereich sind solche Quellen oft nur sporadisch herangezogen und ausgewertet worden. Naturgemäß kann aber auch diese Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Suche war ergebnisreicher bei den Besprechungen von selbständigen Publikationen, zumal von Büchern der bekannteren Autoren, und hatte weniger Erfolg bei Reaktionen auf Texte in den Presseorganen.

Zwischen den einzelnen Rezeptionszeugnissen bestehen erhebliche Differenzen. Diese erklären sich vor allem durch die religiöse und politische Provenienz ihrer Autoren, zum Teil aber auch aus der Mehrdeutigkeit, die mit den Formen der literarischen Camouflage vielfach gegeben war. Es wurde jeweils versucht, die Verschiedenheit der Reaktionen angemessen wiederzugeben. Dabei sind die einzelnen Aussagen zu Gruppen zusammengefaßt worden. Gelegentlich fanden auch die ausländischen Stimmen, insbesondere die der deutschen Exilschriftsteller, Berücksichtigung.

Im ganzen erlaubt das Material, Typologien der Rezeption von Werken in verdeckter Schreibweise zu entwerfen. Es ermöglicht auch eine intensivere Diskussion der Frage, ob und inwieweit die Inneren Emigranten ihr in den eingangs zitierten Sätzen Peter Suhrkamps umschriebenes Wirkungsziel, aufs Ganze gesehen, erreicht haben. Die mitgeteilten Aussagen sprechen für die These, die Literarische Innere Emigration habe an einer gewissen "Herrschaftsbegrenzung" durch Erhaltung von "Bezirken relativer Immunität und Selbstbestimmung [...], in denen nicht-nationalsozialistische Wertetraditionen weiterhin zur Geltung kamen",27 erheblichen Anteil gehabt. Einige aufgeführte positive Reaktionen des Regimes, die zunächst überraschen mögen, sagen über die Intentionen und Wirkungen camouflierter Texte wenig aus, da die Einschätzungen nationalsozialistischer Kritiker und Lektoren vielfach auf selektiver Wahrnehmung oder sogar auf bewußter Umbiegung kritischer Inhalte beruhen.28

[...]

Es ist allerdings ein schwieriges Unterfangen, die herrschaftseindämmende Wirkung gegen die systemstabilisierende Funktion, die die einschlägigen Texte, insbesondere die journalistischen, sicherlich auch hatten, aufzurechnen 31  - ein exakter empirischer Nachweis der Hypothese von der herrschaftsbegrenzenden Wirkung als auch der der objektiven Unterstützung des Regimes ist kaum zu führen.32 Bei der Analyse und Interpretation einzelner Texte können jedoch die Mutmaßungen über die Wirkung durch Berücksichtigung weiterer Parameter plausibler gemacht werden, zu denken wäre an die Auflagenhöhe von Büchern und Presseorganen sowie an die Abonnentenverzeichnisse von Kulturperiodika.

"Vielleicht wird eine künftige Generation einmal die unterirdische Literaturgeschichte des Dritten Reiches schreiben".33 Dieser 1947 geäußerte Wunsch Werner Bergengruens ging bislang nur teilweise in Erfüllung. Die hier vorgelegten Vorstudien und Materialien sind Bausteine für ein solches Projekt.

 

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